Naftali Bennett und Yair Lapid haben sich darum geeinigt, die Knesset aufzulösen und im Oktober neue Wahlen einzuberufen. Das Parlament soll am Montag, den 27. Juni, darüber abstimmen. Der jetzige Außenminister Lapid rotiert und wird bis zur neuen Regierungsbildung anstelle von Naftali Bennett zum Premierminister.
Die diverseste israelische Koalition seit der Gründung des Staates bestand ein Jahr und eine Woche. Kaum jemand hat geglaubt, dass sie so lange halten würde. Zu groß waren die ideologischen Unterschiede zwischen den acht Parteien, die ein politisches Spektrum von rechts nach links, religiös und säkular, sowie jüdisch und arabisch abdecken.
Nichtsdestotrotz kann die Koalition nach diesem Jahr auf mehrere Errungenschaften zurückblicken. Die wichtigste ist die Wiedereinführung eines pragmatischen Regierungsstils und die Zuwendung zu Sachthemen. Die Regierung hat längst überfällige Entscheidungen getroffen und Reformen angestoßen. Zum ersten Mal seit drei Jahren konnte ein Staatshaushalt verabschiedet werden. Mehrere bis dahin vakante Positionen im Staatsapparat wurden besetzt und Ministerien konnten nach mehrjähriger Stagnation ihre fachliche Arbeit wiederaufnehmen.
Es wurden neue Regulierungen im Verhältnis zwischen Religion und Staat vorgenommen, die mit der Partizipation der ultraorthodoxen Parteien an den vorigen Koalitionen nicht möglich waren. Besonders wichtig waren die Bemühungen der Justiz der Erosion des Rechtsstaats Einhalt zu gebieten, indem die Beeinflussung des Obersten Gerichts durch politische Benennung von Richtern als auch die geplante Marginalisierung des Gerichts durch ein Überstimmungsgesetz aufgehalten wurden. Die Beteiligung von Ra ´am, der ersten arabischen Partei, an einer Koalition, führte dazu, dass umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung der sozioökonomischen Lage der arabischen Bevölkerung sowie gegen die Kriminalität in arabischen Ortschaften eingeleitet wurden. Mit dem Eintritt der Partei Meretz in die Regierung bekamen die Bereiche Klima und Umwelt die nötige politische Aufmerksamkeit und der bisher wenig beachtete Klimawandel wurde zu einem Thema der nationalen Sicherheit. Bis 2050 soll Israel nun emissionsfrei werden.
Die größten Erfolge feierte die Koalition jedoch im Bereich der Außenpolitik. Die Politik der leisen Töne und die Hinwendung zum liberalen Westen, führte zu einer Verbesserung der Beziehungen mit der Europäischen Union. Die Koalition bemühte sich auch um bessere regionale Partnerschaften. So verwandelte sich der bisherige „kalte Frieden“ mit Jordanien und Ägypten in wieder wachsende nachbarschaftliche Beziehungen und die ehemals ausgesetzten Beziehungen zur Türkei sind konstruktiv wie lange nicht mehr.
Diese Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit den größeren regionalen Umwälzungen, die zu einer voranschreitenden Integration Israels im Rahmen des Abraham-Abkommens geführt haben. Die bislang vier zwischenstaatlichen Verträge wurden zwar unter Benjamin Netanjahu unterzeichnet, manifestierten sich jedoch in realen staatenübergreifenden Kooperationen erst unter der Regierung Bennetts, wie beispielsweise im Projekt der VAE, Israel und Jordanien zum Austausch von Solarenergie und Wasser.
Der pragmatische Regierungsstil der acht Koalitionspartner beinhaltete von Anfang an den Kompromiss, den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht zu adressieren und den bisherigen Status Quo zu erhalten. Doch der Konflikt machte sich regelmäßig von selbst bemerkbar und wurde vor allem von der Opposition dazu genutzt, um die ideologischen Bruchstellen innerhalb der Regierung zu vertiefen. Sowohl Abgeordnete von rechts und links als auch arabische Parlamentarier wichen in Fragen des Konflikts regelmäßig von der Position der Regierung ab.
Während der religiösen und nationalen Feiertage in April und Mai kam es wie erwartet zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in Jerusalem. Eine Eskalation wie 2021 konnte zwar verhindert werden, dennoch heizte sich die Situation so an, dass die arabische Partei Ra´am ihre Mitgliedschaft in der Koalition zeitweise suspendierte. Nach dem Tod der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh in Jenin und dem umstrittenen Vorgehen der israelischen Polizei bei ihrem Begräbnis verließ die arabische Abgeordnete Ghaida Rinawi Zoabi von Meretz für eine kurze Zeit die Koalition und kündigte an, nicht mehr mit dieser stimmen zu wollen. Nachdem die rechtsnationale Partei Yamina vom Premierminister Bennett die Abgeordnete Idit Silman bereits im April an die Opposition verloren hatte, wurde die Koalition nur noch von 60 Abgeordneten (bei insgesamt 120 Mitgliedern der Knesset) getragen. Einen weiteren Austritt aus der Koalition kündigte letzte Woche zudem noch Nir Orbach von Yamina an.
An schlechten Tagen hatte die Koalition nur noch eine Unterstützung von 52 Abgeordneten, wie die Abstimmung über die Notstandsgesetzgebung in der West Bank am siebten Juni 2022 gezeigt hat. Eine Routineabstimmung über die Ausdehnung des israelischen Rechts auf die jüdischen Siedler jenseits der Grünen Linie, die sonst alle fünf Jahre problemlos eine nötige Mehrheit von rechts bekam, ist gescheitert. Um die Regierung Bennett-Lapid in Bedrängnis zu bringen, stimmte die Opposition dagegen, wie bereits vor einem Jahr über den Zusatz zum Staatsbürgerschaftsgesetz, und damit gegen die eigenen Überzeugungen. Ein mögliches Chaos der unterschiedlichen Rechtssysteme wird dennoch verhindert werden. Denn bei Auflösung des Parlaments wird die Verordnung automatisch verlängert, bis eine neue Regierung gebildet wird. Würde die Notstandsverordnung am 30 Juni auslaufen, hätten die Siedler als Israelis im Ausland ihre Sozialversicherung und das Wahlrecht verlieren können.
In Erwartung eines baldigen Regierungswechsels lud die Opposition Premierminister Bennett zum ersten Jahrestag der Koalition am 13 Juni zu einer symbolischen Anhörung ins Plenum ein, bei der ebenfalls die von ELNET organisierte Delegation mit Mitgliedern des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestags anwesend war. Die Regierungskrise lag förmlich greifbar in der Luft.
Mehrere Szenarien des weiteren Verlaufs waren in den letzten Tagen im Gespräch.
Ein konstruktives Misstrauensvotum zugunsten von Benjamin Netanjahu erschien unrealistisch, da keine 61 Parlamentarier Netanjahu als Premierminister unterstützen. Die oppositionelle Arabische Liste, welche sechs Abgeordnete stellt, würde zwar für die Auflösung des Parlaments stimmen, aber nicht für Netanjahu als Premierminister. Einerseits ist er derzeit wieder der einflussreichste Politiker in der Knesset, dessen Likud nach der letzten Umfrage bei einer neuen Wahl mit 35 Sitzen die größte Partei stellen würde, andererseits war er bis zum Schluss der Grund für das Bestehen der Koalition. Zu groß ist die Angst vor seiner Rückkehr insbesondere unter den linken und arabischen Parteien. Die rechten Parteien der Koalition hofften wiederum vergeblich über Monate auf seinen endgültigen Rückzug aufgrund der Korruptionsprozesse, um sich in einer neuen rechten parlamentarischen Mehrheit ohne Netanjahu neu konstituieren zu können.
Das zweite Szenario bestand in den Versuchen der Koalition, abtrünnige Abgeordnete zum Austritt aus der Knesset zu bewegen, so dass loyale Abgeordnete nachrücken könnten. Austreten sollten beispielsweise neben Ghaida Rinawi Zoabi auch Masud Ghnaim von Ra´am, der am 6. Juni ebenfalls gegen die Koalition stimmte. Dafür hätte die Partei ihn nächstes Jahr bei der Bürgermeisterwahl in Sakhnin unterstützt. Nachdem dieses Szenario nicht gelungen ist, wird höchstwahrscheinlich gerade Ra´am bei der nächsten Wahl den Einzug in die Knesset nicht mehr schaffen, womit das Experiment der jüdisch-arabisch Koalition erst einmal gescheitert wäre.
Im dritten Szenario hatte sich Oppositionsführer Netanjahu um eine Mehrheit zur Auflösung des Parlaments bemüht. Für benötigte 61 Stimmen suchte er Überläufer aus dem rechten Spektrum der Koalition. Dieses Szenario war das wahrscheinlichste, da Premierminister Bennet über seine eigene Partei Yamina zunehmend die Kontrolle verlor. Es sieht so aus, als hätten Bennett und Lapid sich genau diese Peinlichkeit ersparen wollten, als sie die Auflösung des Parlaments eigens vorwegnahmen.
Die kommenden Wahlen werden die fünften seit 2019 werden. Weder israelische Wähler noch die außenpolitischen Partner Israels bekommen eine Verschnaufpause. Gerade vor dem Hintergrund der neuen globalen Veränderungen im Zuge des Krieges in der Ukraine wusste die EU eine pragmatische Regierung in Israel zu schätzen, welche sich beispielsweise für die Vereinbarung über Gaslieferungen nach Europa oder bei der Verstärkung europäischer Verteidigungssysteme mit israelischer Technologie als ein verlässlicher Partner präsentierte. Neue Wahlen wie auch eine mögliche Wiederkehr der politischen Stagnation in Israel werden zusätzliche Herausforderungen im europäischen-israelischen Verhältnis mit sich bringen.