Seit mehreren Jahren lässt sich eine stärkere Verbreitung von antisemitischer Hassrede beobachten und die Zahl von antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland steigt deutlich. Das Internet und Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Tik Tok spielen eine Schlüsselrolle bei der Radikalisierung von Einzelpersonen und Gruppen. Die im Juni 2021 veröffentlichte Studie „The Rise of Antisemitism Online during the Pandemic” der Europäischen Kommission fand über den Zeitraum der ersten zwei Monate dieses Jahres dreizehn Mal so viele antisemitische Vorfälle auf Internetplattformen wie im Vergleichszeitraum Januar bis Februar 2020.
Um dem rasant anwachsenden Problem von Antisemitismus im Internet entgegenzutreten, veranstaltet ELNET im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit dem Projekt Words Matter in acht deutschen Städten Diskussionsveranstaltungen mit politischen und gesellschaftlichen Multiplikatoren. In dazugehörigen Workshops, die von der Amadeu Antonio Stiftung fachlich geleitet werden, erarbeiten Teilnehmende aus den Reihen politischer Jugendorganisationen dazu politische Forderungen und Handlungsempfehlungen für den persönlichen Umgang mit antisemitischen Vorfällen im Internet.
Zwei Jahre nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) kamen am 25. Oktober 2021 politische Vertreter in der Stadt zusammen, um über die netzpolitische Dimension dieses Problems zu diskutieren. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, zeigte sich besorgt über die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts in unserer Gesellschaft. Er betonte in seinem Beitrag, dass der Rechtsstaat auch im Internet konsequent durchgreifen müsse. Neben den rechtlichen Möglichkeiten seien hierfür auch technische Möglichkeiten vonnöten, die teilweise noch nicht bereitgestellt seien. Im Laufe der Diskussion betonte der deutsch-israelische Publizist Arye Shalicar seinerseits die Wichtigkeit des persönlichen Widerspruchs gegen Antisemitismus im Internet. Auch bei besonders extremen Antisemiten sollte man nicht aufgeben, sondern sich auf eine Diskussion mit Ihnen einlassen: „Nur blockieren und sperren hilft nicht“.
Bernd Schlömer, Staatssekretär im Ministerium für Infrastruktur und Digitales, forderte derweil einen besseren Zugang zu internen Daten Sozialer Plattformen für die Forschung. Nur so könne das Phänomen der Radikalisierung im Internet besser verstanden werden. Auch bei der Ausbildung von Polizeikräften sah er Verbesserungspotential. Bei polizeilichen Gutachten komme es wiederholt dazu, dass antisemitische Sprechcodes nicht identifiziert werden. Auf Landesebene forderte er die Einrichtung einer Landeszentrale für digitale Bildung. Auch mahnte er einen reflektierten Umgang mit politischer Sprache an. Der ursprünglich von Rechtspopulisten verwendete Begriff der „Fake News“ sei unscharf: Das Problem seien vielmehr gezielte Falschnachrichten, die User bewusst in die Irre führen.
Bei der Diskussion in Hannover am Folgetag trat die Zwiespältigkeit des Umgangs mit Antisemitismus noch einmal deutlicher hervor. Katharina Wieking bezeichnete die Abwägung zwischen der Einschränkung von Falschnachrichten und Hassrede sowie dem Erhalt der Meinungsfreiheit als Gradwanderung. Franz-Rainer Enste, Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, hinterfragte grundsätzlich die Annahme, Antisemiten überhaupt von ihrer Gesinnung abbringen zu können. Das grundlegende Problem liege in den demokratischen Grundeinstellungen der Menschen, welche frühzeitig in der Schule besser vermittelt werden müssen. Konsens herrschte jedenfalls in der Feststellung, dass die die jeweiligen Plattformen nicht die Richtigen sind, um über die Zulassung von Inhalten zu entscheiden, und so fokussierte sich die Debatte im Folgenden auf unsere gesellschaftliche Verantwortung und Möglichkeiten der wirksamen Antisemitismusprävention. Während für Staatssekretär Jörg Mielke Antisemitismus nicht nur aus Unwissenheit über das Judentum entsteht, wurde schnell klar, dass Auseinandersetzung mit dem Judentum nicht nur in Verbindung mit der Shoa und dem Nahostkonflikt, sondern auch in positivem Kontext erfolgen muss.
Bei der darauffolgenden Veranstaltung in Speyer am 27. Oktober betonte Shalicar, dass Israel oftmals zur Scheibe eines neuen Antisemitismus werde. Insbesondere im Internet seien solche Akteure, wie z.B. Personen aus dem Kreis der BDS-Bewegung, aktiv. Dieter Burgard, Beauftragter der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen, wies in der Diskussion unter Berufung auf Karl Popper darauf hin, dass unsere wehrhafte Demokratie Intoleranz nicht dulden dürfe. Das Bundesland habe in den letzten Jahren erste Weichenstellungen vorgenommen. Besonders hob er hier die Einrichtung der Dokumentationsstelle Antisemitismus beim Landesamt für Verfassungsschutz hervor.
Bei der entsprechenden Diskussion in Leipzig am 01. November sprach sich Oberbürgermeister Burkhard Jung für eine weitergehende Regulierung Sozialer Netzwerke aus, um Radikalisierung im Internet zu bekämpfen. Die Enthüllungen über die internen Abläufe bei Facebook durch Frances Haugen hätten die Notwendigkeit hierfür einmal mehr aufgezeigt. Er betonte hier jedoch, dass die Zuständigkeit für die Einordnung und Verfolgung strafrechtlich relevanter Inhalte beim Staat liegen müsse: Dieses Hoheitsrecht dürfe nicht an Plattformbetreiber übergeben werden. Nora Pester, Inhaberin des jüdischen Verlagshauses Hentrich & Hentrich, äußerte sich ähnlich. Für sie war klar, dass man sich in Bezug auf Hassrede nicht auf Plattformbetreiber verlassen könne. Bildungspolitisch forderte sie einen weitgehenderen Fokus auf Medienkompetenz hinsichtlich des Internets.
Die achte und letzte Podiumsdiskussion fand im Alten Rathaus in München statt. Ludwig Spaenle, Beauftragter der Staatsregierung gegen Antisemitismus, und Münchens Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden mahnten dort einen forcierten Umgang mit Antisemitismus im Internet an. Bayern habe unter anderem durch die Ernennung eines Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz in der Generalstaatsanwaltschaft einen wichtigen Schritt hin zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung getan. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Volksverhetzung und Beleidigung rechtlich besser zu ordnen sei. Carsten Ovens, Executive Director von ELNET Deutschland, fasste das Gespräch abschließen mit den Worten zusammen: „Wir brauchen mehr Bildung, mehr Begegnung – und ein entschlosseneres Handeln gegen Antisemitismus und Hass auf jüdisches Leben in Deutschland und den jüdischen Staat Israel.“
Im Nachgang der Diskussionsveranstaltungen wird ELNET nun ein Positionspapier erstellen, dass die politischen Handlungsempfehlungen der Veranstaltungen zusammenfasst und den teilnehmenden Personen und weiteren Entscheidungsträgern zur Verfügung stellen.