Bei den fünften Parlamentswahlen seit 2019 konnte sich der Block von Benjamin Netanjahu eine klare Mehrheit von 64 der insgesamt 120 Knessetsitze sichern. Die Blockparteien „Vereinigtes Thorajudentum“ (7 Sitze), Shas (11 Sitze) und das Bündnis der nationalreligiösen Parteien (14 Sitze) stellen die Hälfte der Koalitionsmandate (vgl. Likud mit 32 Sitzen) und haben aufgrund ihres Wahlerfolges Ansprüche auf eine Vielzahl von Ministerien erhoben.
Ultraorthodoxe Parteien bekamen einflussreiche Positionen innerhalb solcher Ministerien und Ausschüsse, die vor allem eine Politik für die eigene Klientel ermöglichen. Dazu zählen unter anderem Bau-, Bildung-, Religion- und Sozialministerium, das Ministerium über Angelegenheiten von Jerusalem sowie den Vorsitz im Finanzkomitee der Knesset. Auf diesem Weg können sie das eigene autonome Bildungssystem aufrechterhalten, den sozialen Wohnungsbau für Ultraorthodoxe voranbringen sowie über die staatlichen Transferleistungen mitbestimmen. Die nationalreligiösen Politiker bekamen die Schlüsselministerien für Finanzen, nationale Sicherheit sowie den Vorsitz im Ausschuss für Justiz. Auch sie können damit für ihre über 600.000 Wählerinnen und Wähler sorgen, die in der Regel rechtsreligiös sind und zum Teil in den israelischen Siedlungen in der West Bank wohnen. Sowohl die strittigen Fragen zum Rechtsstatus von Siedlungen sowie die nach israelischem Recht bislang illegalen Außenposten als auch deren finanzielle Stellung könnten so zu ihren Gunsten vorangebracht werden. Der Likud behielt unter anderem die Ministerien für Justiz, Verteidigung und Außen. Eine Reihe von Ministerien haben einen zusätzlichen oder einen zweiten Minister erhalten. Zudem werden mehrere Ministerposten zwischen zwei Kandidaten rotieren, um möglichst alle Ansprüche der Koalitionspartner zufriedenzustellen.
In dieser Regierungskoalition ist der Likud die moderateste Partei. Netanjahu ist säkular ausgerichtet und hat sich in der Vergangenheit trotz harscher Rhetorik als ein eher pragmatischer Politiker gezeigt. Gleichwohl kann es aufgrund der derzeitigen Verteilung der Regierungsämter dazu kommen, dass er in dieser Koalition ideologisch vor sich hergetrieben wird. Mit den Ultraorthodoxen und Nationalreligiösen gibt es wenig programmatische Übereinstimmung. Beispielsweise ist die Politik der Subventionen für Ultraorthodoxe der wirtschaftsliberalen Ausrichtung Netanjahus diametral entgegengesetzt. Dabei stellt die ökonomische Situation für Wählerinnen und Wähler in den Umfragen im Vorfeld der Wahl mit Abstand die oberste Priorität dar. Im Gegenteil zu Nationalreligiösen war Netanjahu bislang auch kein Befürworter der politischen beziehungsweise rechtlichen Annexion von Gebieten in der West Bank. Anders als seine innenpolitisch ausgerichteten Koalitionspartner hat Netanjahu einen starken Fokus auf Außenpolitik. Sowohl das Abraham-Abkommen als auch die iranische Bedrohung sind Themen, die über Jahre von Netanjahu in der politischen Landschaft Israels vorangetrieben und primär mit ihm verbunden werden. Thematisch und ideologisch weit entfernt von seinen Koalitionspartnern ist er dennoch auf diese angewiesen, da derzeit nur sie die regierungsbildende Mehrheit in der Knesset garantieren können.
In großen Teilen der israelischen Gesellschaft fehlt die Unterstützung für ein rechtsreligiöses Bündnis. Wie eine Umfrage des Israel Democracy Instituts aufzeigen konnte, nahm die Zuversicht über die Zukunft der israelischen Demokratie in der Bevölkerung einen Monat nach der Wahl signifikant ab. Besonders bei arabischen, säkularen, linken und zentristisch ausgerichteten Israelis macht sich in Bezug auf die neue Koalition Pessimismus breit.
Nichtsdestotrotz garantieren die entstandenen 64 Sitze des „Bibi-Blocks“ erst einmal stabile Verhältnisse und ermöglichen theoretisch eine langfristige Handlungsfähigkeit der derzeitigen Knesset. Allerdings ist die Themensetzung der neuen Koalition derart explosiv, dass die volle Ausschöpfung der Legislaturperiode von vier Jahren als unrealistisch gesehen werden kann.
Das neue Regierungsbündnis basiert auf insgesamt fünf Koalitionsverträgen, die sich teilweise inhaltlich widersprechen. Alle Koalitionspartner halten in einer Grundsatzerklärung fest, dass das jüdische Volk ein exklusives Recht auf das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan erhebe. Zur Idee eines zukünftigen palästinensischen Staates und der Zweistaatenlösung nehmen die Koalitionsverträge keinerlei Stellung. Der Bau von weiteren Siedlungen in der West Bank wird als eine Priorität der neuen Regierung festgehalten. Vor diesem Hintergrund scheint eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern für die neue Regierung in Jerusalem ad acta gelegt.
Die Koalitionsverträge verpflichten alle Mitglieder der Koalition, die geplanten Veränderungen am Rechtssystem durch ihre Stimme in der Knesset zu unterstützen. Die israelische Rechte bemängelt seit mehreren Jahren die Unausgewogenheit von Legislative und Judikative und wirft insbesondere dem Obersten Gericht vor, sich legislativ einzumischen, in dem es sich in den 90er Jahren eigenhändig gesetzgeberische Kompetenzen verliehen hat. Die Verträge halten fest, dass eine „Balance“ in der Gewaltenteilung wiederhergestellt werden soll.
Die Beteiligung der ultraorthodoxen und nationalreligiösen Parteien an der Koalition führt zu einem besonderen Fokus auf religiöse Angelegenheiten, welcher sich auch in den Koalitionsverträgen manifestiert. Beispielsweise soll ein Grundgesetz verabschiedet werden, dass das Studium der Thora rechtlich auf die gleiche Stufe heben würde, wie den obligatorischen Militärdienst. Dies würde den Vorwurf gegenüber ultraorthodoxen Juden, sie würden sich dem Dienst an der Waffe verweigern, entkräften und würde diese rechtlich in allen Belangen mit IDF-Angehörigen gleichstellen.
Die Veröffentlichung der Koalitionsverträge sowie Ankündigungen einzelner Minister entfachten eine heftige Debatte in Israel. Der Unmut in der Bevölkerung äußerte sich zudem durch mehrere zahlenstarke Demonstrationen. Die Reaktionen führten erneut vor, wie polarisiert die israelische Gesellschaft derzeit ist.
Die vollständige Umsetzung aller Vereinbarungen der Koalitionsverträge ist unwahrscheinlich. Vielmehr signalisieren die Parteien auf diese Weise ihre grundsätzliche Stoßrichtung und kommunizieren damit ihre Pläne an die Bevölkerung. Hinzu kommt, dass manche Themen als Prioritäten markiert sind, wie Siedlungsbau und die Rechtsreform, aber keine festen Fristen ausformuliert sind. Andererseits ist insbesondere den radikalen Kräften der Koalition klar, dass ihre Teilnahme an der Regierung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern aus der Pattsituation resultiert, die zwischen den beiden politischen Lagern entstanden ist und seit 2019 zu fünf konsekutiven Wahlen geführt hat. Dass sie diese Gelegenheit möglichst zu nutzen versuchen, um die eigene Positionierung gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern zu stärken, ist daher wahrscheinlich.