Mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz gegen Corona

Dieser Text erschien zuerst im Diplomatischen Magazin (März 2022). Eine gedruckte Ausgabe kann auf Nachfrage erworben werden: redaktion@diplomatisches-magazin.de.

Seit fast zwei Jahren bestimmt COVID-19 unser aller Leben. Ob beruflich oder privat, es gibt wohl kaum jemanden, der nicht direkt oder indirekt von den Auswirkungen einer der größten Pandemien betroffen ist, welche die Menschheit bislang erlebt hat. 

Nachdem es zu Beginn der Coronapandemie eher darum ging, Schadensbegrenzung zu betreiben, stellen sich Staatschefs und Gesundheitsexperten weltweit nun die Frage, wie solche medizinischen und humanitären Krisen in Zukunft besser bewältigt werden können. Ein Blick über die eigenen Staatsgrenzen hinaus kann dabei Aufschluss geben und führt immer wieder nach Israel: Die jüdische Nation gilt nicht nur in den deutschen Medien als „Impfweltmeister“, „Labor der Welt“ oder „Corona-Vorbild“. Auch die Corona-Beauftragten der israelischen Regierung, genannt „Corona-Zaren“, Ronni Gamzu, Nachman Ash und Salman Zarka, genießen persönlich weltweit hohes Ansehen. Unweigerlich stellt sich die Frage nach Israels Erfolgsrezept im Umgang mit der Pandemie. Die Antwort lautet: Ein hoch digitalisiertes Gesundheitswesen sowie die effektive Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) im medizinischen Kontext. Und das bereits, bevor COVID-19 die Welt traf.

Werfen wir einen Blick auf Israels Digitalisierungsstand im Gesundheitswesen vor Corona. Bereits 1995 begann Israel mit der Digitalisierung von Patientendaten. Ein Meilenstein wurde 2018 durch die Verabschiedung eines nationalen Entwicklungsplans für digitale Gesundheit erreicht. Im Rahmen der rund 270 Millionen US-Dollar starken Regierungsinitiative wurden innovative Projekte gefördert, und die Gesundheitsdaten der rund 9 Millionen Einwohner weiter digitalisiert. Dies führte zur Weiterentwicklung eines beträchtlichen und hochaktuellen Datensatzes. Die Patientendatenbanken unterliegen dabei dem Gesetz zum Schutz der Privatsphäre (Privacy Protection Law), dem Äquivalent unserer DSGVO. Eine tragende Rolle im Digitalisierungsprozess spielten die vier Krankenkassen, HMOs („Health Maintenance Organizations“), die 99 % der Bürger Israels als ihre Mitglieder zählen. Anders als in Deutschland, unterhalten diese jeweils auch eigene medizinische Einrichtungen, wie Apotheken sowie Krankenhäuser, teils mit angeschlossenem Gründerzentrum für digitale Innovationen.

Ebendieses digitale Rückgrat des Gesundheitssystems trug maßgeblich zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie bei, in Israel und darüber hinaus: Die im System verfügbaren anonymisierten Patientendaten in Bezug auf die Impfung wurden Pfizer/BioNTech für die Erforschung von COVID-19-Impfstoffen zur Verfügung gestellt. Dabei gilt es zu verstehen, dass Real-World-Datensätze rar, und gleichzeitig sehr wichtig für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen sind. Die Ergebnisse der aus Israels Datenpool gestützten Impfstudien konnten im Anschluss in verschiedenen Ländern für die Ausarbeitung von Impf- und Pandemiemanagementstrategien genutzt werden. So profitierte nicht nur Israel, sondern die internationale Gemeinschaft.  

Im November 2021 lud ELNET Deutschland hochrängige Stakeholder zu einer Digital Health Delegation nach Israel.

Neben digitalisierten Patientendaten waren es insbesondere drei Gruppen digitaler Technologien, die dem Land im Zuge der Pandemie dienten: Zum ersten, Systeme in Bezug auf Überwachung, Kontaktverfolgung und Berichterstattung. Das israelische Gesundheitsministerium ging beispielsweise eine Kooperation mit GlobeKeeper ein. Daraus resultierte die App HaMagen – hebräisch für „Der Schild“ – eine der ersten freiwilligen digitalen Anwendungen zur Kontaktverfolgung im Zuge von COVID-19 weltweit. 

Des Weiteren wurden Technologien zur Patientenüberwachung und Diagnostik eingesetzt, wobei lokale Startups in kürzester Zeit zahlreiche neue Tools entwickelten. Beispielsweise ein KI-gestütztes Remote-Triage-System von COVID-19-Symptomen in Echtzeit oder eine App zur Früherkennung von Symptomverschlechterung anhand von Messung der Vitalfunktionen. 

Eine große Rolle spielte auch die Telemedizin, die es Patienten ermöglichte, während eines Lockdowns oder bei Sorge vor Ansteckung, weiterhin Zugang zu ärztlichen Untersuchungen zu haben. In kürzester Zeit konnten hier unwahrscheinliche Fortschritte in der Entwicklung von eHealth-Produkten gemacht werden. Beispielhaft ist eine All-in-One-Lösung für medizinische Fernuntersuchungen, die es Ärzten ermöglicht, sich mit Patienten zu Hause zu verbinden, um ihren Gesundheitszustand zu überprüfen. 

Dabei haben diese technologischen Innovationen, die in Israel im Zuge der Coronapandemie schier unabkömmlich waren, insbesondere eines gemeinsam: Sie sind zumeist KI-basiert. In Israel gibt es inzwischen mehr als 700 Digital Health Startups, 85 % von ihnen wenden KI-Lösungen an. Wissenschaftler und Ingenieure, die KI-Anwendungen für Diagnose und Behandlung entwickeln, erhalten große Unterstützung von der Regierung – sowohl finanziell als auch konzeptionell. Daran können sich andere Länder ein Beispiel nehmen und ebenfalls deutlich mehr in Forschung und Innovation im Gesundheitsbereich investieren. Insbesondere sollten Startups unterstützt werden, die KI-basierte Lösungen für die Medizin entwickeln. Darüber hinaus wird dringend eine regulatorische Erleichterung der Einführung von KI-basierten Anwendungen in unser Gesundheitsökosystem benötigt – für eine bessere medizinische und pflegerische Versorgung. 

Internationaler Wissensaustausch und grenzenübergreifende Kooperationen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens könnten also das wichtigste Mittel gegen eine Pandemie sein. Aus dem Altgriechischen kommend (pan ‚gesamt, umfassend, alles’ und dēmos ‚Volk‘), bedeutet das Wort nicht ohne Grund „das ganze Volk umfassend“, bezogen auf die Weltbevölkerung. Wir sollten uns die Frage stellen, ob wir diese Chance so gut genutzt haben, wie es möglich gewesen wäre. Immerhin verdanken wir die Vielzahl wirksamer Impfstoffe gegen COVID-19 der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus aller Welt. Fakt ist, dass wir Initiativen im Gesundheitsbereich benötigen, die sich diese Erkenntnis zu Nutzen machen. Eine davon ist das German Israeli Health Forum for Artficial Intelligence (GIHF-AI), eine Initiative des European Leadership Network (ELNET), gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG).

Kickoff-Event German Israeli Health Forum for Artificial Intelligence (GIHF-AI)

Bei GIHF-AI geht es um Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland und Israel im Bereich Digital Health mit Schwerpunkt auf Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinellem Lernen (ML). Das Forum verbindet Experten aus Wissenschaft, Medizin, Industrie, Forschung sowie Politik und hat dabei einen multisektoralen Ansatz: Es befasst sich mit den drei Kernbereichen Technologie und Sicherheit, Regulatorik sowie Kommunikation und Vertrauen. Ziel ist es, durch regelmäßige Veröffentlichungen, Dialogformate, Workshops und jährliche Konferenzen aktuelle Handlungsempfehlungen für die deutsche Politik zu erarbeiten. Darüber hinaus dient das Forum auch als Plattform, um neue Brücken zwischen den beiden Ländern zu bauen. Perspektivisch sollen weitere europäische Nationen dazu kommen. Ganz im Sinne des internationalen Gedankens. Und vor allem in Sinne der Patientenschaft weltweit.

Autor dieses Textes ist Carsten Ovens, Executive Director ELNET Deutschland.