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Richtungswahl in Israel

Am 1. November stehen in Israel zum fünften Mal in rund dreieinhalb Jahren Neuwahlen an. Das bis dato regierende Parteienbündnis hatte aufgrund mangelnder inhaltlicher Schnittmengen seine Mehrheit verloren, sodass das israelische Parlament im Juni seine Auflösung beschloss. Im Anschluss an die letzten Wahlen im März 2021 hatte sich nach einer langwierigen Mehrheitsfindung ein Regierungsbündnis aus insgesamt acht Parteien formiert, das von Anfang an mit erheblichen programmatischen Differenzen zu kämpfen hatte. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten war, dass man eine erneute Amtszeit Benjamin Netanjahus als Premierminister verhindern wollte. Nachdem einzelne Abgeordnete ihren Austritt aus der Regierungskoalition verkündet hatten, unterlag diese im Parlament schließlich der Opposition.

Die „Regierung der Einheit und des Wechsels wird nach knapp über einem Jahr Amtszeit in der Knesset abgelöst. Ihr war von Anfang an ein baldiges Ende vorausgesagt worden. Gleichzeitig sahen viele Beobachter in der historischen Koalition, in der erstmals auch eine arabische Partei vertreten waren, eine Chance für die Stärkung der Koexistenz zwischen Juden und israelischen Arabern. Die Abwesenheit religiöser Parteien eröffnete die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Religion und Staat zu reformieren. Die Koalition regierte mit einem Fokus auf konsensfähige Themen wie Wirtschaft und Infrastruktur. Diese Agenda verzeichnete zunächst einige Erfolge, so konnte beispielsweise ein regulärer Staatshaushalt verabschiedet werden. Daran war die Vorgängerregierung gescheitert. Bei einer parlamentarischen Abstimmung über den Rechtsstatus israelischer Siedler im Westjordanland offenbarten sich jedoch die unüberbrückbaren inhaltlichen Differenzen und die Koalition verlor ihre Mehrheit.

Bei den kommenden Wahlen könnte der ehemalige Premierminister Benjamin Netanjahu wieder ins Amt kommen. Aktuelle Umfragen sehen seine Partei Likud bei einer relativen Mehrheit von 30 Parlamentssitzen. Zusammen mit den Parteien HaTzionut HaDatit (dt. Religiöser Zionismus; aktuell bei 14 Sitzen), Schas (acht Sitze) und Vereinigtes Thorajudentum (sieben Sitze) könnte er die notwendige Mehrheit von 61 Sitzen erlangen. Auch wenn seinem potenziellen Bündnis laut den Umfragen noch zwei Sitze zur Mehrheit fehlen, profitiert er von der Gespaltenheit des bisherigen Regierungsblocks und könnte daher von Staatspräsident Jitzchak Herzog mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Beauftragt wird der Kandidat, der von den meisten Parlamentariern empfohlen wird. Der derzeitige Premierminister Jair Lapid kommt mit seiner Partei Jesch Atid gegenwärtig auf rund 25 Sitze und ist damit aktuell zweitstärkste Kraft. Das bisherige Regierungsbündnis unter seiner Leitung würde dem Block von Benjamin Netanjahu jedoch derzeit unterliegen. Wie schon bei vorhergegangen Wahlen könnten Kleinstparteien, die sich bisher noch keinem Block zugeordnet haben, zum „Königsmacher“ werden.

Die ersten Wahlprognosen lassen außerdem auf eine alarmierende Wahlmüdigkeit der arabischen Bevölkerung Israels schließen. Demnach beabsichtigen nur 40 Prozent der arabischen Israelis, am 01. November ihre Stimme abzugeben. Darüber hinaus spricht sich eine Mehrheit gegen die erneute Beteiligung einer arabischen Partei an der Regierungskoalition aus. Momentan scheint nicht gesichert, dass arabische Parteien in der neuen Knesset vertreten sein werden. Die an der bisherigen Regierungskoalition beteiligte Ra‘am-Partei setzt auf einen knappen Widereinzug ins Parlament. Das Bündnis „Vereinigte Liste“ besteht nach dem Austritt der Partei Balad nur noch aus zwei Parteien und könnte daher ebenfalls an der 3,25 Prozent-Hürde scheitern.

Dominierende Themen sind im Wahlkampf kaum erkennbar. Im Fokus steht vielmehr die personelle Frage: Netanjahu oder Lapid. Diese Zuspitzung polarisiert das Land. Während die Regierung von Premierminister Lapid zuletzt vor allem außenpolitisch erfolgreich war, so beispielsweise bei der Wiederbelebung des EU-Israel Assoziierungsrats, könnte es im Falle eines Sieges des rechts-religiösen Lagers zur Fortsetzung der in Europa kritisch betrachteten Siedlungspolitik sowie zu einer verstärkten Einflussnahme auf das Justizsystem kommen, wovon Benjamin Netanjahu, der unter anderem wegen Korruption angeklagt ist, eventuell persönlich profitieren könnte. Bezalel Smotrich, der Vorsitzende der Partei HaTzionut HaDatit, welcher regelmäßig mit populistischen Äußerungen auffiel, könnte eine Schlüsselrolle in der Regierungsbildung spielen. Das gilt auch für seinen Parteikollegen Ben Gvir von der rechtsreligiösen Partei Otzma Jehudit (dt. Jüdische Stärke), die sich für die kommende Wahl mit der Partei HaTzionut HaDatit zusammenschloss.

Wie bei den letzten Wahlen zeichnen sich auch dieses Mal ein knappes Ergebnis und eine schwierige Regierungsbildung ab. Die beiden Blöcke um Jair Lapid und Benjamin Netanjahu werden jeweils Kompromisse eingehen müssen, damit schlussendlich eine Mehrheit zustande kommen und ein erneuter monatelanger Stillstand verhindert werden kann. Die Wahl zwischen dem Mitte-links und dem rechts-religiösen Lager stellt eine wichtige Weichenstellung für die innen- und außenpolitische Entwicklung Israels dar. So dürfte sich mit dem Wahlausgang entscheiden, welche Position die israelische Regierung zukünftig gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde einnehmen wird. Außerdem dürfte der Streit um den möglichen religiösen Staatscharakter im Falle von Netanjahus Sieg erneut aufflammen. Wird keine arabische Partei mehr im Parlament vertreten sein, könnte dies die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis weiter vergrößern. Auch für die zukünftigen Beziehungen Israels zur Europäischen Union wird das Ergebnis der Wahl richtungsweisend sein.

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