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Digitalisierung im Verteidigungssektor: Es muss weh tun

Israel ist Vorreiter im Bereich Digitalisierung. Auch Deutschland setzt bereits in vielen Gebieten auf digitale Lösungen, der Aufholbedarf ist jedoch enorm. Dies trifft besonders auf den Bereich Verteidigung zu. Deutschland profitiert hier von einer engen Zusammenarbeit mit Israel. 

ELNET setzt sich für den engen Austausch der beiden Länder ein. Im Rahmen des jährlich stattfinden Forum of Strategic Dialogue (FSD) lädt ELNET Experten und politische Entscheidungsträger aus Deutschland und Israel ein, um aktuelle Herausforderungen und Chancen gemeinsam zu diskutieren. 

Der diesjährige FSD findet am 15. – 17. November in Israel statt. Mit einem Gastbeitrag des Cyber Innovation Hub der Bundeswehr vermittelt ELNET erste Hintergründe und zeigt das Potenzial einer engen deutsch-israelischen Zusammenarbeit bei der Digitalisierung im Bereich Verteidigung auf.

Es ist ein Gerücht, dass Digitalisierung nicht weh tut. Eigentlich muss sie das sogar. Viele digitale Innovationen, die wir heute wie selbstverständlich nutzen, sind quasi aus revolutionären Prozessen entstanden. Ganze Unternehmen wurden in kurzer Zeit überflüssig und das darin gesammelte Wissen wertlos. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich große Organisationen oft schwer damit tun, den digitalen Wandel zu umarmen. Manchmal braucht es kleinere Organisationen, die ihren großen Verwandten den Wandel vormachen. 

Nehmen wir nur das Bild eines großen Tankers. Er ist schwer beladen und kann sehr viele Güter auf einer festgelegten Route von A nach B bringen. Darin ist er wirklich gut. Was ist aber, wenn aufgrund plötzlicher Ereignisse eine Kursänderung notwendig ist? Enge Kurven zu fahren, das kann ein großer Tanker nicht so gut. Ein kleines Schnellboot jedoch schon. Es kann vorausfahren und neue Wege erkunden. Im Prinzip ist es genau das, was eine digitale Innovationseinheit macht, die von einer größeren Organisation gegründet wurde.

Der Cyber Innovation Hub der Bundeswehr (CIHBw) war im Jahr 2017 die erste digitale Innovationseinheit, die von einem deutschen Ministerium gegründet wurde. Er wurde als Katalysator und Impulsgeber für digitale Innovation in der Truppe etabliert – um Prozesse zu ergänzen, Optionen zu erweitern und Dinge potentiell aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Unsere Vision „Empowering Innovation in Defence“ richtet sich am Bedarf der Soldatinnen und Soldaten aus. Wir betrachten uns selbst als „Do-Tank“ für die Truppe. Unsere Aufgabe ist es, digitale Lösungen für jene Probleme zu entwickeln, die im Alltag der Bundeswehr bestehen. Oft helfen uns dabei Technologien, die von Startups entwickelt wurden.

Eine unserer größten Stärken ist, dass wir grundsätzlich schnell sind. Von der ersten Idee für ein neues Vorhaben bis zur Erprobung sollen in der Regel nur drei Monate vergehen. Nach einem Jahr können wir dann meist sagen, ob wir ein Vorhaben zur Beschaffung empfehlen. Seit der Gründung des CIHBw im Jahr 2017 haben wir bereits über 140 Innovationsvorhaben auf den Weg gebracht. 

Dieses Tempo trägt den neuen gesellschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts Rechnung. Die digitale Revolution hat die Geschwindigkeit erhöht, mit der Innovationen auf den Markt kommen. Gleichzeitig ist aber auch die Geschwindigkeit gestiegen, mit der auch im militärischen Bereich Entscheidungen getroffen werden müssen. Insofern geraten eben jene Staaten in Zugzwang, in denen es strukturelle Probleme bei der Umsetzung von Neuerungen aus dem Bereich der Digitalisierung gibt.

Auch in Deutschland gibt es solche Herausforderungen. Und bemerkenswerterweise resultieren sie zumindest teilweise aus jenen Stärken, die das System bisher äußerst krisenfest gemacht haben: Denn eigentlich funktionieren die Dinge in Deutschland vielerorts noch genauso, wie sie auch funktionieren sollen. Über Jahrzehnte wurde ein immenses Wissen darüber gesammelt, wie Prozesse vorangetrieben und in Bewegung gehalten werden können. Leider sind digitale Innovationen nun meistens disruptiv. Sie stellen genau dieses Wissen infrage. An die Stelle des Alten treten neue Prozesse, die etablierten Strukturen werden überflüssig und verlieren schlagartig ihren Sinn. 

Denken wir nur an den Durchbruch der Digitalfotografie in den 2000er-Jahren: Das über mehr als ein Jahrhundert angesammelte Wissen über die Produktion von Chemiefilmen wurde binnen weniger Jahre faktisch wertlos. Die Geschichte des einstigen Weltunternehmens Kodak steht hier nur als ein Beispiel.

Gleichzeitig wächst auf Nutzerseite der Druck, die neuen Möglichkeiten von Technologien auch endlich anwenden zu können. Nehmen wir nur die Digitalisierung der Verwaltung: Natürlich funktionieren die über Jahrzehnte etablierten Prozesse immer noch. Aber wenn in anderen Ländern Behördengänge längst per App erledigt werden können, wirken analoge Mechanismen zunehmend zeitfremd. Im militärischen Bereich entsteht zudem die Gefahr, dass wichtige Fähigkeiten nicht etabliert werden können, die andernorts längst bestehen. 

Oft existieren neue und alte Technologien jedoch noch lange nebeneinander, scheinbar gleichberechtigt. So wie derzeit in der Automobilwirtschaft. Die Frage ist dann zuerst, wann ein Ausstieg sich lohnen könnte. Irgendwann, mit fortlaufender Zeit, lautet die Frage dann jedoch: Wann ist er zwingend erforderlich? Beide Technologien simultan zu produzieren, funktioniert in den meisten Fällen nicht. Weil auf diese Weise nicht die nötige Kompetenz für den Strukturwandel gesammelt werden kann – und weil das System dazu neigt, das nötige Kapital in die scheinbar noch funktionierenden alten Geschäftsmodelle zu lenken.  

Meist braucht es einen Impuls, um althergebrachte Strukturen infrage zu stellen. Und es braucht einen gewissen Druck, um Neuerungen etablieren zu können. In der Startup-Wirtschaft spricht man von einem „Sense of Urgency“, ein Dringlichkeitsgefühl, das Innovationen erforderlich macht und letztlich auch vorantreibt. Bei Startups entsteht das Dringlichkeitsgefühl aus dem Wettbewerb mit anderen Mitbewerbern und dem Wettlauf um neues Kapital. In der Sicherheitspolitik kann ein „Sense of Urgency“ aus einer Änderung in der sicherheitspolitischen Weltlage entstehen.

An einen solchen Zeitpunkt sind wir seit dem 24. Februar 2022 angekommen. Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine markiert eine „Zeitenwende“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz sagte. Das Dringlichkeitsgefühl, die Bundeswehr zu modernisieren, resultiert aus der veränderten sicherheitspolitischen Konstellation heraus. Wir sind gezwungen, Innovationen voranzutreiben, um weiter für Sicherheit sorgen zu können.

Innovationen laufen vor dem Hintergrund eines „Sense of Urgency“ im schnellen Tempo ab. Es gilt, auf die äußeren Zwänge zu reagieren, die das Dringlichkeitsgefühl auslösen. Man muss sich bisweilen Schritt für Schritt an die nötigen Lösungen herantasten. So wie ein Startup Dinge ausprobiert, aus Versuchen lernt und das erworbene Wissen in den Aufbau neuer Technologien einfließen lässt. Wir haben deshalb keine Zeit für Großprojekte, die oft über Jahrzehnte entwickelt werden und allen Stakeholdern gerecht werden sollen. Militärische Innovationen unter dem „Sense of Urgency“ haben vor allem ein Ziel – akute Sicherheitsbedürfnisse zu befriedigen und dafür zu sorgen, dass das System mit dem Dringlichkeitsbedürfnis leben und wachsen lernt.

Israel ist vor diesem Hintergrund ein gutes Beispiel, das uns Orientierung bieten kann. Aus der Situation einer seit Jahrzehnten währenden Bedrohungslage hat sich dort auch im Verteidigungsbereich der digitale Wandel mit einem enormen Tempo vollzogen. Ein Grund dafür war auch, dass Israel auf neue Bedrohungsszenarien im Cyberraum reagieren musste, die mit dem digitalen Wandel einhergehen. Industriell weit weniger entwickelte Länder und nicht-staatliche Akteure können heute mit Cyberwaffen großen Schaden anrichten. Und je weiter die Technologie im Zielland eines möglichen Cyberangriffs entwickelt ist, desto größer kann der Schaden ausfallen. Wir können von Israel aber nicht nur Schnelligkeit und Effektivität lernen. Auch die Zusammenarbeit des Rüstungssektors mit Startups hat Modellcharakter. 

Denn Israels weltberühmter Hightech-Sektor ist seit jeher mit dem Rüstungssektor vernetzt, nicht zuletzt durch einen regen Personalaustausch. Richtungsweisend war die 1970 erfolgte Gründung des Israeli Industry Centre for R&D (MATIMOP) durch einen Kommandeur der Israeli Defense Forces (IDF), welches 2016 in der Israeli Innovation Authority aufgegangen ist. Heute besitzt Israel die höchste Startup Dichte pro Einwohner. Studien zeigen, dass in diesem Innovationsumfeld sowohl militärische als auch zivile Sektoren wechselseitig enorm voneinander profitieren.

Es sind gerade dieses Umfeld und diese Fähigkeiten, die wir auch in Deutschland brauchen, um die Digitalisierung im Verteidigungssektor voranzutreiben. Das Dringlichkeitsgefühl dazu wird uns noch lange begleiten.

Autor: Sven Weizenegger, Leiter Cyber Innovation Hub der Bundeswehr (CIHBw)

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